Christlicher Fundamentalismus

Redebeitrag der Forschungsgruppe Christlicher Fundamentalismus, 26.09.09

Der Aufmarsch, gegen den wir heute protestieren, ist ein wichtiger Termin für die christlich fundamentalistische Bewegung in Deutschland. Dass Vorgehen gegen Schwangerschaftsabbrüche ist eines der wichtigsten Themen für diese Bewegung. Aber es ist lange nicht ihr einziges Thema und auch nicht ihre einzige Veranstaltung.

Herausragend ist der heutige Aufmarsch, weil sich in Deutschland christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten ansonsten kaum in die Öffentlichkeit trauen. In anderen Weltregionen ist das anders. Bekannt ist zumeist, dass diese Bewegung in den USA versucht, ihre Ansichten den Schulen, den Bibliotheken, der Gesetzgebung und der Öffentlichkeit aufzuzwingen. Bekannt ist auch, dass sie dort mit individuellem psychologischen Druck auf Schwangere, Ärztinnen, Ärzte und medizinisches Personal versucht, dass Recht von Frauen auf eine freie Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch zu negieren. Bekannt ist auch, dass Teile dieser Bewegung nicht davor zurückschrecken, Gewalt anzuwenden. Am 31. Mai diesen Jahres wurde Dr. George Tiller ermordet, einer der weniger Ärzte, die im Mittleren Westen der USA Abtreibungen vornahm und sich für das Recht der Frauen einsetzte, selber über ihren Körper zu bestimmten. Der radikale Abtreibungsgegner Scott Roeder erschoss Tiller in dessen Kirche. Dieser Mord war nur der blutigste Anschlag gegen Beführworterinnen und Befürworter des Rechtes von Frauen oder gegen Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden haben, in den letzten Jahren. Aber es war nicht der erste Mord, der aus dieser Bewegung heraus begangen wurde. Es war nicht die einzige Gewalttat. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass diese Bewegung der sogenannten Lebensschützerinnen und Lebensschützer eine solche Tat intern gut heißt. Die rhetorische und physische Gewalt gegen Frauen vor Kliniken, die Abtreibungen durchführen, die Attacken gegen medizinisches Personal und die offensichtlichen Lügen, welche von dieser Bewegung verbreitet werden, sind nicht voneinander zu trennen.

Es geht dem christlichen Fundamentalismus und damit auch den sogenannten Lebensschützerinnen und Lebensschützern dort drüben auf der anderen Seite der Straße um ein gemeinsames gesellschaftliches Ziel: Sie wollen, dass sich alle Menschen an eine christlich-fundamentalistische Moral halten und das jedes Abweichen von diesen Ansichten bestraft werden soll. Es geht ihnen um eine explizite Moraldiktatur, egal ob sie militant auftreten und Frauen auf dem Weg zu Abtreibung beleidigen, ob sie Gottesdienste gegen Muslime oder andere Religion organisieren oder ob sie sich in Lobbyarbeit versuchen.

Um das klar zu stellen: Jeder Christ und jede Christin glauben an eine Reihe von Inhalten, die wir als Atheistinnen und Atheisten vielleicht komisch finden. Aber das ist mit den Glaubensinhalten aller Religionen und aller Sekten ähnlich. Solange Gläubige ihren Glauben für sich leben und niemand anders aufdrücken wollen, ist das ihr gutes Recht. Doch der christlichen Fundamentalismus akzeptiert eine solche Stellung der Religion als Privatüberzeugung nicht und hat andere Vorstellungen.

1. Erstens geht der christliche Fundamentalismus davon aus, dass der christliche Gott die alleinige Autorität für alles ist: für jeden Menschen, für jede Gesellschaft, für die gesamte Natur. Menschen bleibt der Überzeugung radikaler Christinnen und Christen nach nichts anders übrig, als den Weisungen dieses Gottes zu folgen.
Zweitens glauben christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten ernsthaft an die Existenz des Teufels und daran, dass es einen beständigen Kampf zwischen Gott und Teufel gäbe. Das ist nicht als literarisches Gleichnis zu verstehen, sondern ernst gemeint. Sie sind der Überzeugung, dass der Teufel beständig versuchen würde, die Menschen zu verführen. Jedes Abweichen von ihren Moralnormen interpretieren sie deshalb als Werk des Teufels.
Drittens ist das Ziel aller radikalen Christinnen und Christen, die Welt zu retten, indem sie diesen Teufel vollständig besiegen. Oder anders ausgedrückt: alle Menschen sollen den moralischen Vorgaben des christlichen Fundamentalismus folgen. Die Menschen sind ihrer Überzeugung nach allesamt schwach und müssen zu ihrem Glück gezwungen werden. Die Idee, dass diejenigen, welche sich nicht an diese christlich-fundamentalistischen moralischen Vorgaben halten, dazu mit allen Mitteln gezwungen werden müssen, ist dieser Überzeugung nach naheliegend.

Was sind nun die moralischen Grundlagen des christlichen Fundamentalismus?

1. Erstens Obrigkeitshörigkeit. Das gesamte Weltbild des radikalen Christentums ist an strengen Hierarchien orientiert, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Familie. Autorität wird nicht in Frage gestellt, vielmehr wird unbedingter Gehorsam auf allen Ebenen gefordert: Gehorsam vor Gott, Gehorsam der Gemeinde gegenüber dem Priester, Gehorsam der Frauen vor den Männern, Gehorsam der Kinder vor Eltern und Erwachsenen. Gleichzeitig gilt der Staat und jede Autorität als unangreifbar. Was von oben befohlen wird, gilt grundsätzlich als richtig, egal unter welcher Regierungsform. Deshalb findet sich bei fast allen radikal-christlichen Gruppen auch ein positiver Bezug auf Nationen und Nationalismus.
Die zweite Grundlage der radikal-christlichen Moral sind Sexismus, Zwangsheterosexualität und sexuelle Enthaltsamkeit. Die Beschäftigung mit Sexualität und den Geschlechterverhältnissen ist eine Obsession des radikalen Christentums. Große Teile des christlichen Fundamentalismus sind davon überzeugt, dass Homosexualität und sexuelle Lust außerhalb der Ehe ein Versuchung des Teufels darstellen, die bekämpft werden muss, um diesen Teufel zu besiegen. Gleichzeitig wird in dieser Bewegung oft der Mythos verbreitet, dass Männern eine schwer zu kontrollierende Sexualität eigen sei und deshalb vor allem Frauen die Aufgabe hätten, die sexuellen Erregung von Männern zu unterlassen.
Die dritte Basis der radikal-christlichen Moral sind individuelle Askese und Begeisterung für harte Arbeit. Radikale Christinnen und Christen verstehen harte und lange Arbeit als Strafe Gottes für den Sündenfall der Menschen – also als Strafe dafür, dass Adam und Eva im Garten Eden den einen Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hätten. Sie selber arbeiten viel und verzichten auf möglichst viele Dinge, die Spaß machen könnten. Diese Lebensweise wollen sie auch bei anderen Menschen sehen. Gut soll es Menschen erst wirklich gehen dürfen, wenn sie tot sind.

Der christliche Fundamentalismus behauptet, die Bibel als einziges Wort Gottes zu verstehen. Dass ist wörtlich gemeint: die radikal-christliche Bewegung ist davon überzeugt, dass Gott jedes Wort so gewollt hat, wie es in der Bibel steht. Das ist selbstverständlich absurd. Die Bibel ist sooft umgeschrieben, verändert, ergänzt, verkleinert und übersetzt worden, dass es noch nicht einmal möglich ist, von einer einzigen Bibel zu reden, die überall gleich sei. Selbst von der Lutherbibel existieren mehrere Versionen.

Schaut man allerdings genauer hin, ist selbst das eine Lüge. Radikale Christinnen und Christen haben zuerst politische und moralische Überzeugungen und schauen dann mit diesen Überzeugungen in der Bibel nach Stellen, die diese Positionen untermauern. Das ist genau die Rhetorik, die sie selber in ihren Publikationen und Veranstaltungen verwenden: Sie haben erst ein Problem, denken an eine Lösung, sind sich nicht sicher, schlagen in der Bibel nach und finden ihre Ahnung bestätigt. Da sie an Worten hängen und den Kontext, in denen diese Worte stehen, zumeist komplett ignorieren, finden sie selbstverständlich immer solche Stellen. Die Bibel ist dick, ihre Geschichten und Aussagen interpretationsbedürftigt. Deshalb kann mit diesem Vorgehen praktisch alles mit der Bibel begründet werden: Nächstenliebe, Toleranz und antirassistische Praxis genauso wie Zwang, Moraldiktatur, Sexismus und Sklaverei. Und genau deshalb muss man die politischen und gesellschaftlichen Aussagen des christlichen Fundamentalismus ernst nehmen und kritisieren.

Es geht bei den Auseinandersetzung mit ihnen nicht um die richtige Bibelinterpretation, es geht um die Verteidigung von individueller und gesellschaftlicher Freiheit und einigen grundsätzlichen Forderungen der Aufklärung und der Frauenbewegung. Es gilt klar zu machen, dass jede religiöse Gruppe sich aus dem Leben aller Menschen, die nicht zu ihr gehören, raus zu halten hat. Es gilt klar zu machen, dass die Entscheidung, ob eine Abtreibung vorgenommen wird oder nicht, eine Entscheidung der einzelnen Frau ist und niemanden anders. Es gilt klar zu machen, dass jegliche Moral ein Ergebnis gesellschaftlicher und individueller Aushandlungsprozesse darstellt und nicht etwas gottgegeben sind. Das ist alles noch weit entfernt von emanzipatorischen Forderungen oder einer Religionskritik, es stellt einfach die Verteidigung grundsätzlicher Freiheiten und Erkenntnisse da.

Zusammenfassend: Radikale Christinnen und Christen sind davon überzeugt, dass wir alle vom Teufel verfolgt würden und das jede Art von Selbstbestimmung, Individualität, Toleranz und Spaß dazu beitragen würde, die Macht des Teufels zu vergrößern. Das ist zwar vollkommen absurd, aber im Namen dieser Absurdität glaubt diese Bewegung die Welt retten zu müssen und alle Menschen in eine Welt voll Arbeit, Glauben, Obrigkeitshörigkeit und patriarchaler Strukturen zwingen zu dürfen. Und deshalb muss sie gestoppt werden.